Freitag, 15. Februar 2019

2018: Die 15 besten Alben


Nach geläufigen Traditionen reichlich spät: Eine handverlesene Zusammenstellung der musikalischen Exquisitäten des vergangenen Jahres. Den ausführlichen Einleitungstext bitte hier entnehmen.














15
Freddie Gibbs, Curren$y & The Alchemist 
Fetti








Die von The Alchemist aus Vintage Synthesizer Sounds und Soulsamples verschweißte Klanglandschaft entfacht eine hypnotische Sogkraft. Zurückgelehnte, weedgeschwängerte, teils ganz auf Drums verzichtende Instrumentals, die auf vertraute Zutaten zurückgreifen und trotzdem faszinierend frisch klingen. Auch nach mehrmaligem Hören fällt es schwer zu benennen, was genau die Produktionen eigentlich so gut macht. Vielleicht die nötige Bescheidenheit, bei aller Virtuosität das Schlaglicht doch eindeutig den beiden charismatischen MCs zu überlassen. Diese werden über eine Spielzeit von gerade einmal 23 Minuten dem einst von Earl Sweatshirt definierten Credo “Flexing is being able to say the most with the least amount of words” gerecht, wobei Gibbs die Rolle des noch immer hungrig spittenden Street-Veteranen einnimmt, konterkariert von Curren$ys Smoothness neu definierenden Rückenlage-Flow.

Video: "Location Remote"





14
TT
LoveLaws









Erstmals auf Solopfaden und (größtenteils) ohne die Unterstützung ihrer langjährigen Bandkolleginnen von Warpaint hat Theresa Wayman ein Album produziert, das sie selbst als “down tempo, pretty sexy, and a bit emotional” beschreibt. Ihr für eine Gitarristin überaus elektronischer Indie-Sound ("I've never wanted to be a rock Person") streckt sich in Richtung "bedroom folk" auf der einen und gen Trip-Hop auf der anderen Seite seines Spektrums. Es gibt wenige catchy Popmomente; wie bei den bisherigen Warpaint-Platten setzen sich die subtilen Gesangsmelodien erst mit der Zeit immer hartnäckiger im Ohr fest, mit jedem erneuten Hördurchgang treten weitere feine Details ins Bewusstsein. Verträumt und fluffig zugleich mäandern die 10 Tracks daher, in bester Warpaint-Manier langsam ihre schüchterne Schönheit offenbarend.

Video: "I've Been Fine"




13
Hermit and the Recluse  
Orpheus vs. the Sirens








Der mittlerweile 46-jährige New Yorker steht noch immer wie kein Zweiter für einen minimalistischen, höchst eigenen Boombap-Sound. Über Beats, die meist aus nicht mehr als einer Bassline und einem Sampleloop bestehen und so das Augenmerk in erster Linie auf den MC selbst legen, entfacht Ka eine einnehmende Atmosphäre und legt seine Flows erhaben mit der ihm eigenen, präzisen Skalpell-Lyrik über den Takt.
Seiner Vorliebe für Konzeptalben zollt Ka auf Orpheus vs. the Sirens in beeindruckender Manier Tribut. Zusammen mit Producer Animoss als Hermit and the Recluse rollt er seine eigene Biografie auf, wechselt jedoch den gewohnten Blickwinkel und stellt die Betrachtungen in das Licht altertümlicher griechischer Heldensagen. Wer sonst könnte solch ein Konzept ähnlich überzeugend umsetzen?

Video: "Argo"




12
Kids See Ghosts 
Kids See Ghosts







Kanye bringt auf einer Spielzeit von 24 Minuten eine Fülle an Ideen unter, aus der andere ein zweieinhalbstündiges Doppelalbum formen und klingt dabei an keiner Stelle konfus oder überladen, sondern einfach nur gut. 
Kids See Ghosts ist eine Kollaboration mit Kid Cudi, die nächsten Referenzen der eigenen Diskographie My Beautiful Dark Twisted Fantasy und Yeezus. Während sich aktuell die breite Mehrheit der Medien dazu bemüßigt fühlt, Yeezys Verhältnis zu Donald Trump, seine Aussagen zur Historie der Sklavenhaltung und die Frage, ob er nun ein dufter Typ ist oder eher nicht, unter die Lupe zu nehmen, scheint es mir ein wenig unter den Tisch zu fallen, dass der Kerl mit die erfrischendste Musik der jüngeren Rapgeschichte auf den Markt gebracht hat.

Track: "Feel The Love" (feat. Pusha T)





11
Vince Staples 
FM!






Ohne große Promo hat Vince Staples im November ein neues Album gedroppt. Die wenig hochtrabende Veröffentlichungsweise geht dabei Hand in Hand mit der stilistischen Kompromisslosigkeit von FM!. Auf G-Funk- und Trap-inspirierten Brechern schüttelt Vince energiegeladene Flows und düstere Hoodtales aus dem Ärmel. Naturgemäß ist über die 23-minütige Spielzeit alles etwas dreckiger, rougher und weniger ausgetüftelt als auf dem virtuos arrangierten Vorgänger Big Fish Theory, was sich jedoch zu Gunsten ungeheuer druckvoller und explosiver Raps niederschlägt. 
Auf FM! zelebriert Vince die endlosen Sommer in seinem Long Beach Kosmos, sowie Musik und Lifestyle der Westcoast.
Die Produktionen sind in erster Linie von Kenny Beats, weitere, vokale Beiträge stammen von Kamaiyah, Earl Sweatshirt und Tyga. 


Video: "Fun"





10
Aïsha Devi 
DNA Feelings







Der Musik von Aïsha Devi, Gründerin des Schweizer Labels Danse Noire, wohnt eine tiefe spirituelle Kraft inne. Weit gefasst lässt sie sich als eine Art sakrale Kirchenmusik im Gewand avantgardistischer Elektronik beschreiben. Die eigene, durch unzählige Hall- und Echokammern gejagte Stimme ist das wichtigste Instrument der klassisch ausgebildeten Sängerin, wobei Gesang im traditionellen Sinn nur gelegentlich Zweck der Übung ist. Viel mehr verschmelzen ihre gläsernen Klänge immer wieder mit den übrigen Soundschichten der bruchstückhaften Klangwelt, werden wie ein Synth oder als Spoken Word Spuren benutzt oder ins Unkenntliche moduliert. Verglichen mit ihren früheren Experimenten unter dem Alias Kate Wax entfernt sich Devis Musik immer weiter von dogmatischen Groove-Schemen clubmusikalischer Verwertbarkeit. Beattechnisch bleiben meist bloß einzelne Versatzstücke erhalten, klassische Songstrukturen werden zersetzt zugunsten einer transzendentalen Reise gen ferner Klang- und Resonanzräume.



09
Karies 
Alice








Ähnlich wie andere Vertreter progressiver deutschsprachiger Musik in den letzten Jahren, namentlich Die Nerven, Messer oder Friends of Gas, sehen sich auch die Münsteraner von Karies immer wieder mit der müden Post-Punk-Keule leidenschaftsloser Journalisten konfrontiert.
Wo selbiger beim Vorgängeralbum Es geht sich aus, einem Manifest der Kargheit und der hypnotischen Bassläufe, eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen war, müssen bei Alice definitiv andere Geschütze aufgefahren werden.
Die Brüche sind raffinierter, der Gesang melodischer geraten als noch beim Vorgänger.
Der Mut zum Synthie, düstere Elektronik, vertrackte Rhythmen und sogar eine Autotune-Hook sind kennzeichnend für eine schier grenzenlose Experimentierfreude bei einer gleichzeitig beeindruckenden Furchtlosigkeit gegenüber ekstatischen Pop-Momenten.

Das bislang einzige Video zu "Holly" ist ein Statement der Artsyness und zugleich der Unkategorisierbarkeit. Ist das Post-Punk? Ist das Rockmusik? Pop? Gar nicht so leicht zu beantworten. Vielleicht bieten die weiteren Anspieltipps "Alice" und "1987" ja eine Auflösung.


Video: "Holly"




08
Amnesia Scanner
Another Life









Maschinenhaft transformierte Vocals als Markenzeichen,
Stimmen, wie alles und jeden verfluchende Geister, ein völlig wahnsinniges, kaputtes Piano, dazu Nervenfasern verzehrende Sirenen-Synthies und harte Beats, die klingen, als würden sie die Tracks nicht untermalen, sondern totschlagen wollen - fertig ist der Soundtrack für die nächste Party! Im Ernst: Vor allem die beiden Überhits "AS Too Wrong" und "AS A.W.O.L" dürften in einem jeden ordinären Tanzlokal den Dancefloor in Windeseile in eine menschenleere Einöde verwandeln, in Kreisen von Connaisseuren abseitiger elektronischer Musik jedoch für von Ganzkörperzuckungen begleitete Ekstasen sorgen. Doch auch abseits des ganz großen Kraches weiß beispielsweise die elysische Meditation "AS Chain" in Verzückung zu versetzen - Hier ist für Jeden was dabei!

Video: "AS A.W.O.L"





07
Lorn 
Remnant








Mit Remnant hat der US-Producer seiner Karriere ein weiteres Highlight hinzugefügt. Klaustrophobisch, düster, einnehmend intensiv - das sind die ersten Adjektive, die sich beim Hören aufdrängen. Post-Rave-Musik, vereinzelt durchflutet von Momenten nachhallender Euphorie. Einer Euphorie, die jedoch auch der verkrampftesten Umklammerung wieder entflieht und meist nicht länger währt als einen Augenblick, ehe uns wieder der vertraute Mantel schwerer Melancholie umschließt. Das im besten Sinne klinisch ausproduzierte Werk kommt teilweise ohne Beats aus, wobei vage Rhythmen durch hintergründige Percussion oder Synthie-Pattern skizziert werden. Nichtsdestoweniger gibt es wenig Erquickenderes als das Einsetzen der harten, kühl marschierenden Drums in "Kold Mirage" oder das herrlich durch die Dunkelheit treibende "Drawn Out Like An Ache".







06
Low 
Double Negative









Laut Wikipedia spielt die 1993 gegründete Band aus Minnesota vor allem "langsame bis sehr langsame Independent-Musik". Was auf ihrem siebten Studioalbum Indie-förmige Konturen assoziieren lässt, ist jedoch maximal der fistelstimmige Gesang von Alan Sparhawk. Statt an klassischen Songstrukturen darf sich der Hörer an aufgetürmten, lose verwachsenen Texturen erfreuen, die über die gesamte Spielzeit wie ein einziger Stream of Sound and Consciousness dahinfließen. Gelayerte, gepitchte und verzerrte Vocals, die teils Clams Casino ins Gedächtnis rufen, ausufernde Drones und Andy-Stott-mäßige Industrial-Lawinen zeigen die enorme Bandbreite des experimentierfreudigen Trios auf.
Die größte Stärke von Double Negative liegt in der Weise, in der diese verschiedenen Elemente kompositionell miteinander verwoben sind und letztlich ein Stück rauschhafter Musik ergeben, für welches das Albumformat wie erfunden scheint.


Video: "Quorum"






05
Earl Sweatshirt 
Some Rap Songs









Ein größeres Understatement kann bei der Benennung eines Albums vermutlich nicht an den Tag gelegt werden. Dabei klingt das Nachfolgeralbum von I Don't Like Shit, I Don't Go Outside gewiss nicht bloß nach "Some Rap Songs", es klingt wie überhaupt kein anderes Werk des letzten Jahres. Merklich beeinflusst von befreundeten New Yorker Musikern um MIKE oder Standing on the Corner schlägt der Albumsound auf den lediglich zwei Mal die 2-Minuten-Grenze überschreitenden Tracks eine Brücke von lo-fi Rapbeats zu Avantgarde-Jazz. Earl rappt nicht wie jemand, der zwanghaft technische Finesse beweisen will, der exzellente Flow ist bloßes Mittel zum Zweck um seine introspektive Lyrik angemessen zu garnieren. Selbige steht unter anderem im Zeichen einer ganzen Reihe schmerzhafter Verluste von engen Bezugspersonen, die Earl in der Entstehungszeit des Albums hinzunehmen hatte. Dies bricht sich in einer teils niederschmetternden Morbidität Bahn ("I think I spent most of my life depressed/ Only Thing of my mind was death/ Didn't know if my time was next"), wobei Some Rap Songs Suhlen und Trauerbewältigung in einem darstellt.

Track: "The Bends"






04
Tirzah 
Devotion






R&B-Gesang über Synthiesphären und verzerrte Sampleloops. Dazu harte Downtempo-Drumbeats mit ordentlich Wumms - Tirzahs Debütalbum ist eine Ode an den Minimalismus. Der entschleunigt treibende Sound der Londonerin speist sich neben Soul auch immer wieder aus Einflüssen ihres lokalen Umfeldes (Dubstep und Grime), ist jedoch merklich weniger cluborientiert als ältere EPs und Singles. 
Was in Worten wie Trip-Hop klingt, leistet sich tatsächlich den einen oder anderen Flirt mit selbigem Urvater, ohne jedoch retro oder nach 1994 zu klingen.
Devotion ist ein warmes, gefühlvolles Album voller Liebes- und Beziehungssongs. Ein Album, das den Hörer behutsam umarmt und ob seiner Liebe zum Detail und für ausgefuchste Produktionen mit Ecken und Kanten lang anhaltende Freuden verspricht.


Video: "Devotion"





03
Réelle 
Ghamccccxc vRR








In den vergangenen Jahren hatte wohl kaum ein Künstler einen vergleichbar großen Einfluss auf die Entwicklung elektronischer Experimental-Musik, wie der Venezolaner Arca mit seinen ersten beiden Alben Xen und Mutant. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer überbordenden Kreativität und radikalen Grenzüberschreitungen sind die beiden Werke für mich bis heute nur in größeren zeitlichen Abständen am Stück genießbar. 
Stilistisch schlägt Ghamccccxc vRR meiner Meinung nach in eine ähnliche Kerbe. In dystopischen Klangwelten voll zerhackter, brutaler Beats, massiven Noise-Gewittern, alienhaften Stimmmodulationen und gleißenden Synthies erkundet Réelle "key moments before and during Réelle’s first schizophrenic psychosis". Die extreme klangliche Radikalität des Albums ist gewiss der der genannten Arca-Alben ebenbürtig, jedoch steigern eine höhere Stringenz und intuitivere Strukturen bei ähnlichem Ideenreichtum das Hörerlebnis  gar noch einmal erheblich. Easy Listening ist das trotzdem nicht, vielmehr ein schwer fassbares, hoch intensives und singuläres Stück Musik. Zur Review.

Video: "Floating"






02
Yves Tumor 
Safe in the Hands of Love







“Some call it torture, baby I enjoy it”. Für den Hörer breitet Yves Tumor auf Safe in the Hands of Love einen ausufernden Raum der Orientierungslosigkeit und Verlorenheit aus. Selbst dem etikettierungswütigsten Kritiker dürfte es angesichts dessen schwer fallen, die stilistische Essenz dieses trotz allem kohärenten Machwerkes auf den einen oder anderen Begriff herunterzubrechen. Wenn ein Künstler zur selben Zeit Liaisons mit Noise, Ambient, R&B, Pop und '90s Alternative Rock einzugehen wagt, ist das Ergebnis in der Regel einfach ein schlechtes Album. Die Experimente von Yves Tumor wirken jedoch so intuitiv und unprätentiös, sein Durchschreiten rigider Genregrenzen derart schlafwandlerisch sicher und seine Emotionen so wahnsinnig nah- und fühlbar, dass Tumor nicht weniger als ein Meilenstein gelungen ist. Dies auch nicht zuletzt ob der lakonischen, deepen Lyrics: "There's a pain deep inside, but I’m trying not to lose my only baby girl to a toxic world/ I crawled back in our mother's womb to find a piece of you"





01
Smerz 
Have fun









Ein brachiales Kick-Stakkato fegt durch zentnerschwere Basswellen. Tiefes Rauschen und anschwellender Feedback Noise branden auf, werden immer lauter, die Atmosphäre verdichtet sich und plötzlich...Ruhe.
Ein sphärischer Synthie von der Art "durch Mark und Bein gehend" fordert den gesamten Raum für sich ein bis ein schief treibender Halftime-Rhythmus einsetzt. Wenig später erstmals das vertraute stimmliche Zusammenspiel von Catharina Stoltenberg und Henriette Motzfeldt: Unterkühlt säuselnder Sprechgesang kontrastiert von einem glockenklaren Gesang, der alle Facetten zwischen Enttäuschung, Langeweile, Lust und und Euphorie auf einmal in sich trägt. Bereits in ihrem überaus kontrastreichen Intro verdeutlichen die beiden Norwegerinnen, wohin die Reise den Hörer führen wird: In ihre ganz eigene introvertierte Soundwelt, eine klaustrophobische Welt der Empfindsamkeit und Verletzlichkeit. Musikalisch beherbergen die durchweg beeindruckend produziert- und abgemischten Tracks eine Mischung aus kargen Techno-Passagen, eigenartigen Loops, Field Recordings und Industrial-Kicks.

Video: "Worth It"


Hier geht es zu 2018: Die 100 besten Songs