Sonntag, 11. November 2018

Alben für den Herbst: 7 Kurzbesprechungen (Tirzah, Low, Miss Red, Beak, Dean Blunt, Lorn & Rabit)

Elektronische Klänge,
Popmusik & Avantgarde.
Alles wie immer also.

















Low - Double Negative

Eines der vielschichtigsten Alben, die mir dieses Jahr zu Ohren gekommen sind, ist zweifellos Double Negative von Low. Laut Wikipedia spielt die 1993 gegründete Band aus Minnesota vor allem "langsame bis sehr langsame Independent-Musik". Unpraktischerweise ist Indie so ein viel- bzw. nichtssagender Begriff und ohne sich an dieser Stelle musikphilosophisch aufreiben zu wollen, führt Double Negative, Lows siebtes Studioalbum, den Genrebegriff einmal mehr ad absurdum. 
Was Indie-förmige Konturen assoziieren lässt, ist maximal der fistelstimmige Gesang von Alan Sparhawk. Statt an klassischen Songstrukturen darf sich der Hörer jedoch an aufgetürmten, lose verwachsenen Texturen erfreuen, die über die gesamte Spielzeit wie ein einziger Stream of Sound and Consciousness dahinfließen. Gelayerte, gepitchte und verzerrte Vocals, die teils Clams Casino ins Gedächtnis rufen, ausufernde Drones und Andy-Stott-mäßige Industrial-Lawinen zeigen die enorme Bandbreite des experimentierfreudigen Trios auf. 
Die größte Stärke von Double Negative liegt in der Weise, in der diese verschiedenen Elemente kompositionell miteinander verwoben sind und letztlich ein Stück rauschhafter Musik ergeben, für welches das Albumformat wie erfunden scheint.






Tirzah - Devotion

R&B-Gesang über Synthiesphären und verzerrte Sampleloops. Dazu harte Downtempo-Drumbeats mit ordentlich Wumms - Tirzahs Debütalbum ist eine Ode an den Minimalismus. Der entschleunigt treibende Sound der Londonerin speist sich neben Soul auch immer wieder aus Einflüssen ihres lokalen Umfeldes (Dubstep und Grime), ist jedoch merklich weniger cluborientiert als ältere EPs und Singles.
Was in Worten wie Trip-Hop klingt, leistet sich tatsächlich den einen oder anderen Flirt mit selbigem Urvater, ohne jedoch retro oder nach 1994 zu klingen.
Devotion ist ein warmes, gefühlvolles Album voller Liebes- und Beziehungssongs. Ein Album, das den Hörer behutsam in den Herbst wiegt und ob seiner Liebe zum Detail und für ausgefuchste Produktionen lang anhaltende Freuden verspricht.


 





Lorn - Remnant

Mit Remnant hat der US-Producer seiner Karriere ein weiteres Highlight hinzugefügt. Klaustrophobisch, düster, einnehmend intensiv - das sind die ersten Adjektive, die sich beim Hören aufdrängen. Post-Rave-Musik, vereinzelt durchflutet von Momenten nachhallender Euphorie. Einer Euphorie, die auch der verkrampftesten Umklammerung entflieht und meist nicht länger währt als einen Augenblick, ehe uns wieder der vertraute Mantel schwerer Melancholie umschließt. 









Miss Red - K.O.

Einen Namen machte sich die gebürtige Israelin im Umfeld von UK-Legende The Bug, zu dessen Live-Entourage sie seit 2012 zählt. Gemeinsame Songs fanden ihren Weg unter anderem auch auf sein letztes (großartiges!) Soloalbum Angels & Devils (2014). Auf weitere Kollaborationen, unter anderem mit dem Londoner Gaika, lässt sie nun ihr LP-Debüt K.O. folgen. Für die Produktion zeichnet der umtriebige The Bug verantwortlich, was sich einmal mehr als Glücksfall entpuppt. Während Dancehall heutzutage primär als Begriff für recht generische, in der Kommerzialisierung der eigenen Subkultur festgefahrene Partymusik steht, haucht das Duo dem Koma-Patienten neues Leben ein. 
Miss Reds Vortrag als Singer/MC profitiert hier von einem erfrischenden Facettenreichtum, wechselt wie selbstverständlich von trancehafter Dämonenbeschwörung zu explosivem Geflexe. Die zumeist höchst druckvollen Instrumentals von The Bug bewegen sich im Gravitationsfeld von Angels & Devils und den sphärischen Meditationen von Kode 9 & The Spaceapes Memories Of The Future.


 




Beak - >>>

Das Projekt um Portishead-Soundtüftler Geoff Barrow legt mit >>> sein drittes Album vor. Der recht sperrige Titel führt dabei auf eine falsche Fährte, so ist >>> im Vergleich zu den Vorgängern eher zugänglich geraten. Zwar dominieren noch immer hypnotische Elektronik und Krautrock-Einflüsse, doch wirken die Songs in ihren Strukturen klarer und aufgeräumter. Neben dem bereits seit der 2015er Split EP bekannten "When We Fall", dem melancholischen Finale des Albums, sei die erste Auskopplung "Allé Sauvage" als Anspieltipp genannt.

 






Rabit - Life After Death

Rabits Songs besitzen seit jeher stark collagenartige Strukturen. Seine Arbeitsweise, das Vermengen und Verketten sehr verschiedener, oftmals obskurer Elemente, erscheint auf Life After Death nochmals verfeinert. Sprachsamples aus dem unter Eindrücken der Verwüstung des Nachkrieg-Europas stehenden Propaganga-Kurzfilm Seeds of Destiny von 1946 geben "Spirals" sein düsteres Motiv: "Living in filth [...] from which will emerge new leaders. Will they be new Einsteins, Toscaninis - or new Hitlers and Mussolinis?" Die Präsenz von Chaos, von Unsicherheit und Gefahr liegen wie ein schwerer Schleier über den 12 Songs. Ein breit gefächertes Instrumentarium aus kristallinen Synthies, Streichersamples, orchestralen Chören oder maschinellem Dröhnen sorgt für eine stetige Unberechenbarkeit über 34 ereignisreiche Minuten.

 




Dean Blunt - Soul On Fire

Dean Blunts jüngste, frei herunterladbare EP ist mehr eine 15-minütige Skizzen-Werkschau als ein kohäsives Album. Die bloß lose konzeptionierte, unverkopfte Herangehensweise tut seinem Output dabei einen Gefallen. Wo die Konfrontation mit der Sperrigkeit des Briten sonst bei jedem Release einiges an Durchhaltevermögen und Kampf abverlangt, funkt Soul On Fire auf der Stelle. Musikalisch bewegt sich Blunt einmal mehr an der Schnittstelle von entschleunigtem Hip-Hop (Trip-Hop) und Indie. Seine faszinierende Stimme vermag es dabei nach wie vor, mit einem einzelnen Säuseln Wunden zu heilen.






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